Prof. Dr. Manuel Ammann
Manuel Ammann ist ordentlicher Professor für Finanzen an der Universität St. Gallen, Dekan der School of Finance und Direktor des Schweizerischen Instituts für Banken und Finanzen. An der Universität St. Gallen ist er unter anderem akademischer Leiter des Master of Arts in Banking and Finance. Manuel Ammann ist regelmässig als Gutachter und Berater für Unternehmen und öffentliche Institutionen tätig.
Dr. Stefan Leins
Der Ethnologe Stefan Leins ist Oberassistent am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich und Mitglied des Forschungsprogramms «Anthropology of Economy» an der London School of Economics and Political Science. Er hat an den Universitäten Zürich, Luzern, Liechtenstein und Trondheim gelehrt.
Der Kollaps der US-amerikanischen Investmentbank Lehman Brothers jährt sich zum zehnten Mal. Die Börsenkurse haben sich erholt, die Banken haben ihre Eigenmittel aufgestockt und ihr Selbstverständnis wiedergefunden. Ist die nächste Finanzkrise weit weg?
Manuel Ammann Die Marktteilnehmer haben einiges unternommen. Sie erwähnen die Eigenmittel der Banken, ich denke auch an andere Massnahmen, die sich aus der Marktregulierung ergeben haben: zum Beispiel die Installation von zentralen Gegenparteien bei gewissen Derivategeschäften. Ich sehe insgesamt mehr Transparenz, ich sehe mehr Stabilität. Auch weil die Banken ihre Anreizstrukturen nun langfristig ausgestaltet haben. Dennoch existieren weiterhin strukturelle Faktoren, die das Finanzsystem empfindlich machen. Die Finanzkrise vor zehn Jahren war mitunter eine Verschuldungskrise. Und die Verschuldung hat im Allgemeinen nicht abgenommen, im Gegenteil. Das ist eine Entwicklung, die nicht nachhaltig ist und früher oder später wieder in eine Krise münden könnte.
Stefan Leins Als Ethnologe denke ich vom Menschen her. Und auch hier kann ich feststellen, dass sich etwas verändert hat. So ist das Bewusstsein für bestimmte Gefahren sicher gestiegen, gebannt sind sie dadurch nicht. Wichtig zu verstehen dabei ist, dass es letztlich Menschen sind, die den Markt «machen» und dadurch zukünftige Krisen nicht ausgeschlossen sind.
Ammann Es wäre auch illusorisch zu glauben, es gäbe krisenresistente Märkte. Risiken einzugehen, gehört nicht nur zur menschlichen Natur, sondern macht auch einen wesentlichen Teil des Marktmechanismus aus.
Welche Marktteilnehmer waren denn überhaupt schuld an der letzten Finanzkrise? Beim Platzen der Dotcom-Blase waren die Sündenböcke ja schnell gefunden: die Finanzanalysten.
Leins Die Financial Times titelte 2001 sogar «Shoot All the Analysts». 2008 war das anders. Es war augenscheinlich, dass das Problem zu komplex ist, um eine Gruppe von Marktteilnehmern alleine dafür verantwortlich zu machen. Dennoch war es diese Finanzkrise, die mich zu meiner Feldforschung inspirierte. Während zwei Jahren arbeitete ich in der FinanzanalyseAbteilung einer Grossbank und führte eine teilnehmende Beobachtung durch. Unter meinen Kollegen waren auch ein paar, die den Fehler bei sich gesehen haben. Dass sie riskante Aktien oder strukturierte Produkte zum Kauf empfohlen hatten, machte sie in ihren Augen zu Schuldigen. Diese Finanzanalysten waren aber die Ausnahme.
Ammann Als Wirtschaftswissenschaftler hege ich fast schon natürliche Zweifel an der Prognostizierbarkeit von Märkten, war das Gegenstand Ihrer Forschung?
Leins Genau. Ich habe mich gefragt, wieso Finanzanalysten überhaupt existieren, wenn die ökonomische Theorie deren Prognosen gar nicht legitimiert. In diesem Zusammenhang und um an die Schuldfrage anzuknüpfen, ist es interessant, dass zwar ein einzelner Finanzanalyst keine Märkte steuern, die ganze Berufsgruppe hingegen einzelne Aktien oder Sektoren beeinflussen kann. Das liegt an einem häufig feststellbaren bankenübergreifenden Konsens. Nehmen Sie BRIC zum Beispiel, das Konstrukt, das den Stand der wirtschaftlichen Entwicklung in Brasilien, Russland, Indien und China über einen Kamm schert. Durch die Multiplikation dieser «Story» und entsprechenden Investitionen materialisierten sich die formulierten Erwartungen tatsächlich im Markt.
Es wäre illusorisch zu glauben, es gäbe krisenresistente Märkte.
Manuel Ammann
Die Finanzanalysten waren nicht die Verursacher der Krise, prognostizieren konnten sie sie jedoch auch nicht.
Ammann Genauso wenig wie die Theoretiker. Ich glaube schon daran, dass die Wissenschaft in der Lage ist, Fehlentwicklungen zu erkennen. Die Vorstellung, dass wir mit wissenschaftlichen Methoden die Zukunft voraussagen können, ist jedoch unrealistisch. Der Anspruch an ein Fach oder im Falle der Finanzanalysten an eine Berufsgattung, frühzeitig vor Krisen warnen zu können, ist schlicht zu hoch.
Leins Dem kann ich nur beipflichten. Einem Politikwissenschaftler wirft auch niemand vor, einen Bürgerkrieg nicht vorausgesagt zu haben. Die Idee, Krisen wie Lawinenniedergänge voraussagen zu können, impliziert ja, dass Märkte entlang von Naturgesetzen funktionieren. Das ist ganz klar nicht der Fall. Der Mensch spielt wie erwähnt eine wichtige Rolle. Natürlich gibt es erkennbare Muster. Es gibt aber auch Phänomene, die sich komplett ausserhalb ökonomischer Logiken abspielen.
Hat denn der starre Glaube an die ökonomischen Modelle vielleicht sogar zur Krise beigetragen? Zumindest gab es entsprechende Kritik an der Lehre.
Ammann Hätten wir an den Universitäten etwas anders machen können? Ich habe mir diese Frage während und nach der jüngsten Finanzkrise immer wieder gestellt. Letztendlich bin ich zur Überzeugung gelangt, dass wir die richtigen Theorien gelehrt haben und immer noch lehren. Sie sind das Rüstzeug. Ökonomische Modelle sind seit Jahrzehnten bewährt und helfen, die Komplexität zu reduzieren. Dennoch sind sie limitiert. Zu aggressiv angewendet, können sie unerwartete Resultate herbeiführen.
Leins Die Wirkungsmacht von Modellen darf man tatsächlich nicht unterschätzen. Häufig entwickeln sie in der Praxis ein Eigenleben. Wenn dann noch Anreizsysteme dazukommen, die risikobehaftetes Verhalten begünstigen, wird manch mahnendes Wort aus dem Studium in den Hintergrund rücken. Dazu kommt etwas, das ich während meiner Feldforschung beobachten konnte: Die arrivierten Finanzanalysten forderten die Frischlinge häufig auf, jetzt erstmal das an der Universität Gelernte zu vergessen und ein «Marktgefühl» zu entwickeln.
Ammann Ich kann das mit einem Beispiel illustrieren: Der «Value at Risk» drückt die Risikoposition eines Portfolios in einer einzigen Zahl aus. Hinter dieser Zahl verbergen sich aber immens viele Annahmen. Wenn Sie diese nach einer gewissen Zeit nicht mehr beachten, sie vergessen oder sogar mutwillig unter den Tisch kehren, bewegen Sie sich früher oder später ausserhalb der Theorie. An der Universität St. Gallen bringen wir den Studenten seit jeher bei, sich von der reinen Modelloptik zu lösen, die zugrundeliegenden Annahmen einzubeziehen – und auch zu hinterfragen.
Leins In den Sozialwissenschaften können wir mithelfen, den menschlichen Faktor in der Analyse von Märkten zu betonen. Uns stehen dazu Methoden wie die teilnehmende Beobachtung zur Verfügung. Während meiner Zeit bei der Bank konnte ich über längere Zeit sehen, was die Finanzanalysten tun, wie sie sich in der Gruppe verhalten und welche Dynamiken entstehen. In einer einfachen Befragung hätte ich nie erfahren, was mit den an der Universität gelernten Modellen in der Praxis tatsächlich passiert.
Einem Politikwissenschaftler wirft auch niemand vor, einen Bürgerkrieg nicht vorausgesagt zu haben.
Stefan Leins
Ein breit abgestützter Lehrplan, verantwortungsbewusste Studenten – beugt die Universität St. Gallen damit einer weiteren Finanzkrise vor?
Ammann Unser Lehrplan ist in der Tat breit abgestützt, die Finanzkrise von 2007 bis 2008 ist auch thematisch vielschichtig eingeflossen und wir verfügen seit langem über ein Institut für Wirtschaftsethik. Ich glaube allerdings nicht, dass die Universitäten die Aufgabe haben, Krisen zu verhindern. Aber wir müssen Funktionsweisen erklären und kritisch beleuchten sowie auch mal auf nicht nachhaltige Entwicklungen hinweisen. Ich habe die hohe Verschuldung schon zu Beginn erwähnt. Keine Finanzkrise ohne Verschuldung.
Leins Das interessiert mich. Wie können Sie es den Banken schmackhaft machen, die Verschuldung einzudämmen, wenn diese doch mit zu deren Geschäftsmodell gehört? Über den langfristigen Nutzen?
Ammann Eine einzelne Institution optimiert ihr Geschäft für sich und ihre Aktionäre. Sie wird nicht zugunsten des Gesamtsystems auf ihren Gewinn verzichten. Und da kommt der Regulator ins Spiel. Die Politik muss Marktstrukturen schaffen, die nur ein gewisses Mass an Risiko zulassen. Steuergesetze wie in der Schweiz, die die Verschuldung eher fördern als hemmen, könnten Gegenstand einer solchen Diskussion sein. Aber Achtung: Ein sehr strenger regulatorischer Rahmen, der probiert, Krisen ganz zu vermeiden, würde die Marktteilnehmer über Gebühr hemmen.
Leins Am Ende liegen Krisen eben doch in der Natur von Märkten.
Buchtipp: Stories of Capitalism
Dian Fossey, bekannt geworden durch den Film «Gorillas im Nebel», musste für ihr Forschungsobjekt in den Dschungel Zentralafrikas reisen. Stefan Leins reichte eine Tramfahrt an die Zürcher Stadtgrenze. In einer Schweizer Grossbank studierte er für seine Dissertation die Spezies «Finanzanalyst», indem er sich der entsprechenden Abteilung für zwei Jahre als Teilzeitmitarbeiter anschloss. Seine Beobachtungen sind jetzt auch in Buchform erschienen. «Stories of Capitalism» beschreibt die Initiationsriten nach Feierabend genauso wie die strenge kulturelle Abgrenzung zu den Vermögensverwaltern und den Kundenberatern. Stefan Leins beantwortet aber in erster Linie die Frage, wieso es Finanzanalysten überhaupt gibt. Immerhin stehen deren Prognosen im Ruch, nicht viel mehr als Kaffeesatzlesen zu sein.