Pascal Kaufmann
Neurowissenschaftler Pascal Kaufmann ist Mitbegründer des Schweizer Unternehmens Starmind mit Hauptsitz in Küsnacht und Büros in Frankfurt und New York. In über 100 Ländern teilen Mitarbeitende von Grosskonzernen über das gleichnamige Netzwerk basierend auf selbstlernenden Algorithmen ihr Wissen in einem Corporate Brain. Die Schnittstelle zwischen lebenden Gehirnen und Robotern erforschte der Absolvent der ETH Zürich an der Northwestern University in Chicago. Mit der Stiftung Mindfire versucht Pascal Kaufmann nichts weniger, als den Braincode zu knacken.
Dr. Jeremy Callner
Als Head Data Scientist steuert Jeremy Callner bei SIX die Bestrebungen, die grossen vorhandenen Datenmengen für Services mit hohem Kundennutzen zu verwerten. Im Team vom Gregor Kalberer befasst er sich dabei auch mit künstlicher Intelligenz. Der gebürtige US-Amerikaner hat Physik studiert an der University of Illinois in Chicago und bei der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN in Genf seinen Doktor gemacht. Er war 2012 dabei, als das CERN mit seinem Large Hadron Collider das Higgs-Teilchen experimentell nachweisen konnte. Jeremy Callner hat ausserdem einen Bachelor als Jazz-Saxophonist von der Roosevelt University in Chicago.
Wir befinden uns im Gewerbemuseum Winterthur, mitten in der Ausstellung «Hello, Robot.». Werden Roboter bald dafür sorgen, dass wir noch mehr Zeit für Museumsbesuche haben?
Pascal Kaufmann Ich hoffe es. Denn es gäbe für uns Menschen tatsächlich Spannenderes zu tun, als zu arbeiten – zum Beispiel ein Museumsbesuch. Bei den handwerklichen Berufen – bei allen Berufen, wo viel körperliche, feinmotorische Arbeit gefragt ist – wird das aber noch dauern, zum Beispiel in der Pflege. In wissens- und regelbasierten Berufen wird es schneller gehen. Viele Aufgaben, die heute unser Gehirn löst, könnten von Robotern beziehungsweise Algorithmen übernommen werden.
Algorithmen, künstliche Intelligenz, Machine Learning, Deep Learning: Können Sie beide die Begriffskonfusion etwas entwirren?
Jeremy Callner Ich fange mal bei Machine Learning an. Häufig geht bei diesem Begriff die Fantasie mit den Leuten durch. Science-Fiction und Hollywood lassen grüssen. Übersteigerte Erwartungen oder sogar Ängste könnten wir vermeiden, wenn wir Machine Learning als das bezeichnen würden, was es ist: eine automatische Parameter-Kalibrierung.
Kaufmann Ich glaube, das müssen Sie erklären.
Callner Für mich als Physiker erhält das Gehirn einen Input durch Sinneswahrnehmung, Erlebnisse usw. und es bewirkt einen Output, indem ich mich bewege, etwas greife usw. Grundsätzlich glaube ich daran, dass wir das mathematisch modellieren können. Ein Modell verfügt über Parameter. Machine Learning bedeutet, dass es für jeden dieser Parameter einen Algorithmus gibt, eine Art Anleitung, wie das System neue Informationen verarbeiten, zum Beispiel sortieren soll. Das Lernen, wenn wir das überhaupt so bezeichnen wollen, ist beschränkt auf den Algorithmus, den der Programmierer vorgegeben hat. Deep Learning – als besondere Form des Machine Learnings – braucht dank der Verwendung von neuronalen Netzen etwas weniger starre Vorgaben.
Kaufmann Die Vorstellung einer Input-Output- Maschine ist naheliegend. Sie entspricht dem, was wir von Computern kennen, die unseren technologischen Alltag prägen. Zielführend ist das nicht. Vor ein paar hundert Jahren glaubten die Menschen, das Hirn bestehe aus Zahnrädchen und Spiralfedern. Nur weil Uhren gerade den technologischen Alltag bestimmten. Wahrscheinlich ist das Gehirn eben keine Input-Output- Maschine, weil wir als Menschen laufend den Input verändern. Ich kann ein Glas Wasser nicht anfassen, ohne den Input auf unterschiedlichste Weise und laufend zu beeinflussen. Machine Learning und damit auch Deep Learning sind für mich darum rein statistische Verfahren und nicht das, was ich mir unter Intelligenz vorstelle.
Grundsätzlich glaube ich daran, dass wir das Gehirn mathematisch modellieren können.
Jeremy Callner
Beim Begriff «künstliche Intelligenz » gehen die Meinungen sicher am meisten auseinander.
Callner Eine Definition, die mir gefällt, fängt mit Machine Learning an, wie ich es beschrieben habe. Dazu kommt dann die Fähigkeit, etwas simulieren zu können, also Voraussagen zu treffen, und zu guter Letzt darauf basierend eine Entscheidung zu treffen. Ich finde, das ist dem, wie wir Menschen lernen, sehr ähnlich. Ich bin auch Musiker und weiss daher aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, die korrekte Tonfolge zu üben. Wenn ich sie immer wieder falsch spiele, hinterlässt das Spuren im Gehirn. Auf der Bühne, im Rampenlicht und vor Publikum werde ich garantiert daneben greifen, weil es sich so eingeprägt hat.
Kaufmann Die Theorie der neuronalen Netze, die Sie im Zusammenhang mit Deep Learning erwähnt haben, ist dafür wohl die beste Theorie, die wir zurzeit haben. Als Neurowissenschaftler sagen wir «What fires together wires together». Neuronen, die gleichzeitig auf etwas ansprechen, bilden bevorzugte Verbindungen im Gehirn.
Callner Und genau das können wir doch modellieren. Bei «meiner» automatischen Parameter-Kalibrierung wären die Verbindungen zwischen den Neuronen die Parameter. Es gibt Methoden, wie wir so einem Computer zum Beispiel beibringen können, eine Katze zu erkennen. Wir wählen dabei den umgekehrten Weg vom Bild der Katze zurück zum Pixel. Je mehr Bilder wir einspeisen, desto besser können wir die Parameter kalibrieren, desto stärker wird die Verbindung zwischen den künstlichen Neuronen.
Kaufmann Aber wie erfolgreich sind wir wirklich damit, unsere Hirnstruktur in einem Computer nachzubauen? Für mich hat ein Gehirn noch immer etwas Magisches. Weder bessere Statistik noch schnellere Computer erhöhen meiner Ansicht nach die Qualität künstlicher Intelligenz. Ich glaube auch nicht an Big Data. Brauche ich wirklich 300 Millionen Bilder von Katzen, um diese zweifelsfrei von Kühen abgrenzen zu können? Intelligenz bedeutet für mich viel eher, aus Small Data zu lernen. Das Kleinkind sieht einmal eine Katze und weiss für den Rest seines Lebens, was eine Katze ist. Verstehen Sie mich richtig, ich bin felsenfest davon überzeugt, dass wir eines Tages künstliche Intelligenz auf menschlichem Niveau erschaffen können. Immerhin versuchen weltweit Forschungsgruppen wie die Schweizer Stiftung Mindfire, den Braincode zu knacken.
Warum ist das erstrebenswert? Muss ich das Gehirn denn in seiner Gänze verstehen, um intelligente Anwendungen zu kreieren?
Kaufmann An dieser Stelle müssen wir präzisieren. Auch wenn es häufig vermischt wird, gibt es einen Unterschied zwischen der Automatisierung und dem Streben nach künstlicher Intelligenz. Der Mensch hat schon immer automatisiert. Schon Archimedes hat mit seiner Schraube den Menschen das Wasserpumpen erleichtert. Heute automatisieren wir, indem wir digitalisieren – dank Machine Learning, Big Data usw. Das führt mitunter zu spektakulären Resultaten. Aber um automatisieren zu können, müssen wir den Braincode nicht knacken. Das versuche ich aus anderen Gründen. Ich will zum Beispiel verstehen, wie der Mensch plant, zum Teil über die eigene Lebenszeit hinaus. Biologisch verstehen muss ich den Menschen dafür übrigens nicht. Frei nach Leonardo da Vinci: Ich will nicht den Vogel nachbilden, sondern ein Flugzeug bauen. Ich bin am Prinzip der menschlichen Intelligenz interessiert.
Um automatisieren zu können, müssen wir den Braincode nicht knacken.
Pascal Kaufmann
Callner Womit wir wieder bei der Definition von künstlicher Intelligenz wären. Vielleicht auch weil ich bei SIX arbeite, habe ich im Zusammenhang mit Automatisierung eine etwas andere Meinung. Wenn wir zum Beispiel einen Service entwickeln, um automatisch Anomalien in Marktdaten der Börse zu entdecken, braucht es dafür durchaus eine gewisse Form von Intelligenz. Entsprechend gross ist dann auch der Effizienzgewinn. JACOB, die Abkürzung steht für Jacob’s Automated Compliance Bot, ist ein anderes Beispiel. In der Vergangenheit, ohne Machine Learning, ohne Big Data und ohne die heutige Rechnerleistung, hätten wir solch ein Tool gar nicht realisieren können. Es hilft den Compliance-Spezialisten bei SIX, und bald auch unseren Kunden, den Banken, regulatorische Veränderungen in Tausenden von Dokumenten besser nachvollziehen zu können. Insofern hat die Begeisterung für künstliche Intelligenz – im weiteren Sinn – durchaus ihre Berechtigung.
Kaufmann Ich glaube, wir können uns einigen: Natürlich steckt in solchen Services Intelligenz, menschliche Intelligenz. Auch die Technologie von Starmind macht sich diese zunutze, wenn sie das Wissen von Mitarbeitenden in Grosskonzernen besser verfügbar macht. Aber ist es nicht im Grunde die konservierte Intelligenz des Programmierers, die wir meinen, wenn wir von künstlicher Intelligenz sprechen? Gerade bei einem Infrastrukturbetreiber für den Finanzmarkt wäre ein Service mit einem «Eigenleben» wohl auch nicht vertretbar.
Callner Einverstanden. Auch darum sind Begriffe wie «Machine Learning» oder «selbstlernend» nicht nur ungenau, sondern gefährlich. Wie gesagt – und mit einem Augenzwinkern – spreche ich darum lieber von automatischer Parameter-Kalibrierung.
Kaufmann Was die Autonomie betrifft, möchte ich noch etwas Wichtiges ergänzen. Wenn wir den Braincode geknackt und ihn in einem Algorithmus nachgebaut haben, werden wir diesen nicht der reinen Statistik und damit sich selbst überlassen. Wir werden ihm eine Art Wertesystem einpflanzen, denn echte Intelligenz ist immer zielgerichtet. Und das Ziel geben wir vor. Die künstliche Intelligenz soll im «Team Mensch» spielen, nicht im «Team Roboter».
Callner Das finde ich sehr sympathisch. Und in der Zwischenzeit lassen wir die Maschinen so intelligent wie derzeit möglich für uns arbeiten.
Auf der Suche nach dem Braincode
Die als Schweizer Non-Profit-Organisation gegründete Stiftung Mindfire konzentriert sich darauf, die grundlegenden Prinzipien der menschlichen Intelligenz zu verstehen und diese in Form menschenartiger künstlicher Intelligenz für soziale und nachhaltige Zwecke anzuwenden. Um die ungelösten Fragen zu beantworten, bringt Pascal Kaufmann, der Gründer und Präsident von Mindfire, in mehreren Missionen jeweils 100 internationale Talente aus den unterschiedlichsten Themengebieten zusammen. Die Beiträge und Entdeckungen der einzelnen Missionsteilnehmer speichert ein Distributed Ledger, die Technologie hinter der Blockchain. Wenn Mindfire den Braincode dereinst tatsächlich knackt, lässt sich so die Kette der Ideen einwandfrei rekonstruieren und die geistigen Eigentumsrechte bleiben gewahrt. Die erste Mission fand im Mai 2018 in Davos statt.
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