Die Suche nach dem neuen Gleichgewicht


Die Suche nach dem neuen Gleichgewicht

Christian Reuss, Head SIX Swiss Exchange, spricht über seine Lehren aus einem aussergewöhnlichen Börsenjahr und seine Erwartungen für 2021.

Das Jahr 2020 neigt sich dem Ende zu. Welche Schlüsse ziehen Sie bisher daraus?
Christian Reuss: Es war ein aussergewöhnliches Jahr, aus verschiedenen Gründen. Aufgrund der festgefahrenen Äquivalenzdiskussion zwischen der EU und der Schweiz konnten die europäischen MTFs keine Schweizer Aktien handeln, so dass unser Marktanteil auf fast 100% gestiegen ist. Zudem führte die Covid-19-Pandemie zu einer deutlich spürbaren Verunsicherung im Markt. Doch im Vergleich zum «Jordan Day» am 15. Januar 2015, als der Schweizer Franken für den Markt überraschend vom Euro entkoppelt wurde, dauerten die Kursausschläge dieses Mal nicht nur einen Tag, sondern hielten über mehrere Wochen und Monate hinweg an. Dies führte im Gegenzug zu fast beispiellosen Handelsvolumina bis in den Sommer hinein.

Wie haben Sie diese Umstände gemeistert?
Im Hinblick auf die Marktturbulenzen haben wir eine unserer Kernfunktionen auf dem Finanzmarkt vollumfänglich erfüllt, nämlich jederzeit einen fairen und geordneten Handel zu gewährleisten. Offene Börsen sind für Investoren in Krisen entscheidend, denn nur so können sie ihre Positionierung im Markt entsprechend ihren Erwartungen anpassen. Die Schliessung von Börsen hingegen erhöht nur die Unsicherheit, wie wir auf den Philippinen gesehen haben: im Rahmen der Krise wurde die Börse für zwei Tage geschlossen, und nach der Wiedereröffnung fielen die Aktienkurse um 30%. Wir konnten uns während der heissen Phasen auf unsere Mitarbeiter und die stabile und skalierbare Infrastruktur verlassen – beide haben Ausserordentliches geleistet.

In Bezug auf die aussergewöhnlichen Umstände, die von der Nicht-Äquivalenz ausgelöst wurden: Diese boten uns eine einzigartige Gelegenheit, die Auswirkungen der Liquiditätskonsolidierung auf unsere Marktqualität zu untersuchen. Hierbei standen für uns insbesondere die Schlüsselbereiche Handelsaktivität, Qualität des Auftragsbuchs und Preise im Vordergrund.

Was waren Ihre Erkenntnisse?
Als die Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID) im Jahr 2007 in Kraft trat, führte der Regulator den Wettbewerb im Aktienhandel ein. Infolgedessen wurde die Liquidität auf mehrere Handelsplätze mit unterschiedlichen regulatorischen Spielregeln aufgeteilt. Wie Sie sich vorstellen können, waren manche Handelsplatzanbieter nicht sehr erfreut, dass die EU den Schweizer Finanzplatz für nicht gleichwertig erklärte und in der Folge der Schweizer Bundesrat diese Massnahme wirksam aus Schweizer Sicht neutralisierte. Als sich also die Handelsvolumen in Schweizer Aktien wieder auf unseren Markt konzentrierten, gab es entsprechend warnende Stimmen, dass die Handelsvolumen insgesamt zurückgehen, die Geld-Brief-Spannen sich ausweiten und die Handelskosten steigen würden.

Und ist irgendetwas davon eingetreten?
Tatsächlich haben wir genau das Gegenteil festgestellt: Die Bündelung der Liquidität an einem Ort bietet vielen Marktteilnehmern – und somit den dahinter stehenden Investoren – auch handfeste Vorteile. Davon handeln auch einige unserer jüngst auf Englisch veröffentlichten Publikationen, beispielsweise mein Artikel «Trading Swiss Equities – Lessons from the Non-equivalence and 2021 Outlook» sowie die fünfte Ausgabe unserer sehr erfolgreichen Artikelreihe «Trading InfoSnacks». 

Können Sie die Auswirkungen der Konsolidierung von Liquidität noch genauer beschreiben?
Zunächst einmal zeigen unsere Auswertungen, dass die Liquiditätskonsolidierung nicht zu einem Rückgang des Gesamtumsatzes mit Schweizer Aktien geführt hat. Darüber hinaus wurde offensichtlich, dass die Geld- Briefspannen an der Schweizer Börse weitgehend unbeeinflusst blieben und sich die Liquiditätstiefe, also die zum Handel verfügbaren Volumina im Orderbuch, durch die Konsolidierung verbessert hat. Eine Ausweitung der Geld- Briefspannen war höchstens ganz zu Beginn des Nicht-Äquivalenzregimes festzustellen, sowie natürlich während der erhöhten Unsicherheit infolge der Covid-19 Pandemie im Frühjahr – dies war allerdings an allen Primärbörsen der Fall. Immerhin blieben die Geld- Briefspannen an der Schweizer Börse im Vergleich zu unseren Peers am engsten und erholten sich auch relativ betrachtet am schnellsten.

Wie sieht es mit den Handelskosten aus?
Unsere Analysen zeigen, dass ein Markt mit konsolidierter Liquidität gegenüber Volatilitätsschocks widerstandsfähiger ist als ein Markt mit fragmentierter Liquidität, die sich auf mehrere Handelsplätze verteilt. Dieser Aspekt ist besonders wichtig bei der Bewertung der so genannten impliziten Handelskosten. Zudem hat sich das Order-to-Trade-Verhältnis an unserer Börse von über 6 auf unter 4 verbessert hat. Die Handelseffizienz ist also ganz klar gestiegen.

Demnach hätte die Fragmentierung auch negative Seiten?
Ich denke es ist legitim zu sagen, dass jede Medaille zwei Seiten hat. Auf der einen Seite bringt Fragmentierung Wettbewerb, der dem gesamten Markt zu Gute kommt und ihn weiterbringt. Es gibt aber auch eine gewisse Schwelle, bei deren Überschreitung die möglichen Nachteile einer überhöhten Fragmentierung zum Tragen kommen können: Die Komplexität der Märkte und die zugehörigen Suchkosten nach Liquidität steigen, und es kommt zu einer ineffizienten Vervielfältigung von Infrastruktur und betrieblichen Ressourcen. Diese Diskussion kann aber nur vom gesamten Markt unter Berücksichtigung der Perspektive aller Marktteilnehmer, einschliesslich der Buyside sowie der mittleren und kleineren Marktteilnehmer, geführt werden.

Blicken wir nach vorne: wie beurteilen Sie die Aussichten für 2021?
Wir erwarten ein bilaterales Abkommen zwischen der Schweiz und Grossbritannien, das mit grosser Wahrscheinlichkeit dazu führen wird, dass die in London ansässigen MTFs den Handel mit Schweizer Aktien wieder aufnehmen werden. Ich betrachte dies als eine gewisse Rückkehr zur Normalität, die von den Marktteilnehmern erwartet und begrüsst wird. Wir sind generell Befürworter von offenen Märkten und haben dies seit Anbeginn der Äquivalenz-Diskussionen auch stets betont.

Sie scheuen sich also nicht vor dem Wettbewerb?
Ganz im Gegenteil! Ich bin davon überzeugt, dass der Wettbewerb uns antreibt, unsere Nähe zu den Marktteilnehmern stärkt und uns ermöglicht, unsere Innovationsfähigkeit unter Beweis zu stellen. Wir haben den Konkurrenzkampf im Bereich des Aktienhandels schon seit vielen Jahren angenommen und unsere wettbewerbsorientierte Einstellung seither nie geändert – auch nicht mit einem Marktanteil von fast 100%. Wir haben weiterhin stetig in unsere Plattform und neue Funktionalitäten investiert, um unseren Kunden Mehrwert zu bieten und mit Markttrends Schritt zu halten oder diese sogar zu setzen.

Wir haben den Konkurrenzkampf im Bereich des Aktienhandels schon seit vielen Jahren angenommen und unsere wettbewerbsorientierte Einstellung seither nie geändert – auch nicht mit einem Marktanteil von fast 100%.

Haben Sie dafür konkrete Beispiele?
Im Jahr 2020 haben wir mit «Trading-At-Last» eine zusätzliche Möglichkeit für Teilnehmer eingeführt, im Anschluss an die Schlussauktion noch Aufträge zum Schlusskurs auszuführen. Zudem sind wir dabei, für ETFs ein alternatives Quote-On-Demand-Marktmodell einzuführen, das dem RFQ-Workflow ähnelt und den Teilnehmern eine Alternative zur bestehenden Liquidität bietet. Zudem haben wir in den letzten 18 Monaten bei den Handelsgebühren einige Anpassungen und Promotionen lanciert, die unseren Handelsteilnehmern zu Gute kommen.

Und was steckt noch in der Pipeline?
Wir haben mit der Arbeit an der Conditional LIS-Order-Funktionalität für SwissAtMid begonnen, die unseren Teilnehmern einfacheren Zugang zu Blockliquidität ermöglichen wird; die Einführung ist für nächstes Jahr geplant. Zudem können wir, sobald der Wettbewerb im Handel mit Schweizer Aktien wieder beginnt, unseren Service Swiss EBBO reaktivieren. Diese Dienstleistung bietet Handelsteilnehmern, die nach der bestmöglichen Ausführung suchen, eine einzigartige und innovative Möglichkeit, Schweizer Aktien zu handeln. Mit einem einzigen Auftrag können sie dann auf drei Liquiditätspools zugreifen: das öffentliche Orderbuch, SwissAtMid und Swiss EBBO. Die gleichzeitige Ausführung über die drei verschiedenen Auftragsbücher maximiert die Liquidität, mit der ein Auftrag interagieren kann, und stellt somit sicher, dass die Teilnehmer für ihren Limit-Auftrag immer den besten an der Schweizer Börse verfügbaren Preis erhalten.

Sie klingen zuversichtlich, ein gewisses Mass Ihres aktuellen Marktanteils halten zu können?
Wenn der Wettbewerb wieder hergestellt ist, erwarten wir, dass der Markt sein «neues Gleichgewicht» finden und sich die Verteilung der Liquidität zwischen Referenzmarkt und an den alternativen Handelsplattformen einpendeln wird. Ich bin dabei optimistisch, dass unsere Orderbücher – sowohl die mit und die ohne Vorhandelstransparenz – die attraktivste Wahl für die Marktteilnehmer bleiben werden. Um dies zu gewährleisten arbeiten wir – wie immer – eng mit den Marktakteuren zusammen, um unser Angebot ständig weiter zu verbessern.

 

Christian Reuss, Danke für dieses Interview.