Wettbewerb im Aktienhandel: Jetzt geht’s (wieder) los!


Wettbewerb im Aktienhandel: Jetzt geht’s (wieder) los!

Christian Reuss, Head SIX Swiss Exchange, über die aussergewöhnlichen Herausforderungen von 2020 und die Stärken der Schweizer Börse in volatilen Phasen und im wieder aufflammenden Wettbewerb um Marktanteile im Aktienhandel.

Christian Reuss, was bleibt im Gedächtnis, wenn Sie auf das Börsenjahr 2020 zurückblicken?
Für die Schweizer Börse war 2020 in vielerlei Hinsicht aussergewöhnlich. Entscheidend war für mich, dass wir unsere Kernaufgabe, den stabilen Betrieb unseres Handelsplatzes jederzeit sicherstellen konnten und damit eine ordentliche Preisbildung ermöglicht wurde. Gerade in Zeiten hoher Unsicherheit, wie wir sie v.a. im März erlebt haben, ist dies für Marktteilnehmer und Investoren die Grundvoraussetzung, um unmittelbar auf die Kursbewegungen reagieren zu können – also mit anderen Worten, die Krise bestmöglich zu bewältigen. Dieses Ergebnis ist dem unermüdlichen Einsatz unserer Teams zu verdanken.

Zudem hat mich sehr gefreut, dass unsere Investitionen in Orderbuchqualität und neue Services vollumfänglich vom Markt angenommen wurden und somit zielführend waren. Gerade in hochvolatilen Phasen waren die Geld-Brief Spannen an unserem Markt im Vergleich zu anderen europäischen Primärmärkten weiterhin die engsten. Und neue Services wie SwissAtMid erreichten infolge der erhöhten Handelsaktivitäten Rekordvolumina. Dass infolge der Äquivalenz-Diskussion fast der gesamte Handel in Schweizer Aktien auf unseren Handelsplatz vereint war, verstärkte die oben genannten Effekte noch. Insgesamt können wir demnach – in vielerlei Hinsicht – von einem Rekordjahr sprechen. 

Der Wettbewerb ist für uns nichts Neues, sondern eher eine Rückkehr zur Normalität.

Warum ist es so wichtig, dass die Börse offen blieb?
Das vergangene Jahr hat verdeutlicht, wie zentral eine zuverlässig funktionierende Börse für die Finanzmärkte, die Wirtschaft und letztendlich für die Gesellschaft ist. Die Schweizer Börse hat ihre zwei Kernaufgaben jederzeit erfüllt: die Kapitalaufnahme am Primärmarkt und die Preisfindung im Sekundärmarkt zu ermöglichen. Wäre einerseits diese Finanzierungsquelle ausgefallen oder hätten andererseits Wertschriften nicht mehr gehandelt werden können, dann wäre die ohnehin bereits bestehende Unsicherheit noch massiv gestiegen. So ging sie zwar nicht weg, aber Emittenten und Marktteilnehmer konnten sie besser bewältigen.

Gibt es dazu konkrete Zahlen?
Im Bereich der Kapitalaufnahme wurden von bereits an der Schweizer Börse kotierte Unternehmen knapp CHF 6 Milliarden an Eigenkapital aufgenommen. Dies sind ca. 30% mehr als im Durchschnitt der drei vorangegangen Jahre. Weiterhin haben neu kotierte Schuldinstrumente wie z.B. Anleihen und Geldmarktpapiere zum ersten Mal überhaupt die aggregierte Grösse von CHF 100 Milliarden überschritten. Auch wenn es nach drei erfolgreichen IPO-Jahren in 2020 keine klassischen Börsengänge gab, unterstreichen diese Zahlen die Vielfalt und Attraktivität der Finanzierungsmöglichkeiten über SIX – insbesondere vor dem Hintergrund dieses aussergewöhnlichen Jahres.

Im Handel wurde mit über 99 Millionen Transaktionen ein Volumen von CHF 1‘753,3 Milliarden abgewickelt – mehr als je zuvor. Wichtiger als die Rekordwerte ist jedoch die Tatsache, dass Investoren jederzeit und ohne Unterbrechungen ihre jeweils aktuellen Markterwartung umsetzen konnten, eine durchgehende Preisbildung also gewährleistet war. Dabei erreichte gerade im März die durchschnittliche im Markt vorherrschende Volatilität Werte von über 70%, d.h. eine einzelne Aktie schwankte an einem Handelstag im Durchschnitt um knapp 4-5%.

Sie haben die wichtige Rolle der Mitarbeitenden erwähnt. Welche weiteren Voraussetzungen braucht es zur Bewältigung von Krisen?
In Abwandlung des Sprichwortes «Si vis pacem, para bellum» liesse sich im Börsenkontext sagen: Wer einen geregelten und nachhaltigen Handel sicherstellen möchte, muss sich auf Krisen vorbereiten. Dass wir nie dagewesene Rekordvolumen über aussergewöhnlich lange Zeiträume – das besondere Merkmal der Situation im Frühling 2020 – effizient abwickeln konnten, bedingt nebst hochqualifizierten und motivierten Experten auch modernste und belastbare Technologie. Dank unserem langjährigen Fokus auf Qualität haben wir beides.

Dies bedingt regelmässige Investitionen in die Weiterentwicklung unserer Handelsplattform und ihre Peripherie. Seit die Schweizer Börse vor 25 Jahren als globaler Pionier den vollelektronischen Handel eingeführt hat, haben wir uns ständig verbessert. Heute bieten wir eine vollautomatisierte und somit – dies war im letzten Jahr entscheidend – skalierbare Abwicklung aller relevanten Dienstleistungen und Services vom Listing bis zum Handelsabschluss an. Diese Skalierbarkeit nach oben ist die Grundvoraussetzung, um als Infrastrukturanbieter so aussergewöhnliche Zeiten, wie wir sie gerade erleben, erfolgreich zu bestehen.

Wie hat sich dieser Pioniergeist im vergangenen Jahr gezeigt?
Technologie und Infrastruktur sind das eine, und hier konnten wir unsere Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit öffentlich wahrnehmbar unter Beweis stellen. Weniger sichtbar sind indes unsere kleineren und grösseren Verbesserungen sowie Initiativen, die den Handel liquider und effizienter machen. Gerade von letzteren profitiert auch der Endanleger. Konkrete Beispiele aus dem Vorjahr sind Neuerungen in den Segmenten für Aktien, ETFs und Strukturierte Produkte.

Ziel unserer Massnahmen ist es, den Börsenhandel noch attraktiver zu gestalten.

Im Aktienhandel haben wir Trading-At-Last – kurz «TAL» – eingeführt, bei ETFs «Quote on Demand» sowie bei den Strukturierten Produkten das Price Validation Marktmodell, kurz «PVM». Ohne im Detail auf jede Neuerung einzugehen: Das übergeordnete Ziel dieser Massnahmen ist es, unseren Kunden zusätzliche Liquiditätsquellen und Funktionalitäten zur Verfügung stellen, um damit den Börsenhandel noch attraktiver zu gestalten.

Blicken wir in die Zukunft: Welche Herausforderungen stellen sich im 2021?
Selbst wenn wir politische Prozesse nicht beeinflussen können, haben sie doch Auswirkungen auf unsere Geschäftstätigkeit. Infolge des Brexit und der nun erfolgten gegenseitigen Äquivalenz-Anerkennung zwischen der Schweiz und England werden die MTFs in London den Handel in Schweizer Aktien wieder aufnehmen. Dies wird zu einer erneuten Fragmentierung des Handels in Schweizer Werten führen, und in den kommenden Monaten wird sich eine Balance zwischen dem Handel am Referenzmarkt und an den alternativen Handelsplattformen finden.

Dieser Wettbewerb ist für uns natürlich nichts Neues, sondern eher eine Rückkehr zur Normalität, die wir erwartet und auf die wir uns vorbereitet haben. Dabei fokussieren wir uns auf unsere eigenen Stärken und die Wettbewerbsfähigkeit unserer Kunden – denn ihre Bedürfnisse und ihr Erfolg definieren unser Tun und unseren Leistungsausweis.

Können Sie hier Beispiele nennen?
Schon am 15. Februar werden wir mit Swiss EBBO eine weitere Dienstleistung einführen, die den Handel mit Schweizer Aktien an unserer Börse attraktiver macht. Sie bietet den Handelsteilnehmern zusätzliche Liquidität und unterstützt sie dabei, für sich und ihre Kunden eine bestmögliche Ausführung ihrer Aufträge zu erzielen. Im Swiss EBBO Auftragsbuch stellen designierte Liquidity Provider Preise zum European Best Bid and Offer, kurz EBBO. Es ergänzt das bestehende einsehbare Central Limit Order Book und SwissAtMid, unseren nicht einsehbaren Liquiditätspool. Dabei können alle drei Auftragsbücher mit einem einzigen Auftrag gleichzeitig angesteuert werden. Dieser einzigartige Setup unterstützt die Teilnehmer dabei, den besten Preis zu erzielen und reduziert zudem das Risiko und die Komplexität, die mit einer Ausführung in mehreren Liquiditätspools ausserhalb der Schweizer Börse verbunden wären.

Auch wenn uns mit der «Rückkehr zur Normalität» eine intensive Zeit bevorsteht, freuen wir uns auf die Chance, unser innovatives Potential und unseren Schweizer Pioniergeist neu unter Beweis zu stellen. Nur so können wir besser werden.

 

Christian Reuss, vielen Dank für dieses Interview.