Alternativen in Zeiten von VUCA


Alternativen in Zeiten von VUCA

Das vorherrschende wirtschaftliche und politische Klima, das von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Mehrdeutigkeit (Volatility, Uncertainty, Complexity and Ambiguity, VUCA) geprägt war, hat zu einer Reihe unterschiedlicher Dynamiken auf den Märkten geführt. Gonzalo Gómez Retuerto, Head Fixed Income BME and MARF (Mercado Alternativo de Renta Fija), dem spanischen alternativen Anleihenmarkt, spricht über die Auswirkungen, die die jüngsten Turbulenzen auch weiterhin auf Anleihen haben werden, und gibt Einblicke in spannende neue Finanzierungsmöglichkeiten für KMU (kleine und mittlere Unternehmen) über Fremdkapitalmärkte.

Für spanische KMU, die unter den Auswirkungen von COVID-19 leiden, bietet MARF einen hervorragenden Zugangsweg zur Finanzierung durch nicht-traditionelle Mittel. Gleichzeitig suchen Anleger auch nach neuen Renditequellen, was MARF zu einem sehr attraktiven Anlageziel macht. 

Wie wirkt sich COVID-19 auf den spanischen Markt im Allgemeinen aus?

Gómez Retuerto: COVID-19 lähmt seit März 2020 die Weltwirtschaft und Spanien ist da keine Ausnahme. Der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert nun einen Rückgang des weltweiten BIP (Bruttoinlandsprodukt) von 3,5 %, während für die Eurozone ein Rückgang des BIP von ca. 7,2 % erwartet wird. Laut Warnungen des IWF könnte es in Spanien zu einem zweistelligen BIP-Rückgang von insgesamt ca. 11,1 % kommen. Das schiere Ausmass der Krise hat zu beispiellosen Zentralbank-Interventionen geführt, die wiederum die Zinsen auf null oder in einigen Ländern sogar in den Negativbereich drücken. Beispielsweise erreichten die Spreads bei spanischen Anleihen im Januar 2021 0,55 Basispunkte und damit den niedrigsten Stand seit der Schuldenkrise der Eurozone. Trotz dieser Dynamik haben die Finanzmarktinfrastruktur (FMI) und die Handelsplätze in Spanien die Volatilität gut gemeistert und konnten mit dem Anstieg bei Mittelflüssen und Volumen mithalten. 

Was sind die wichtigsten aktuellen Trends auf den spanischen Kapitalmärkten?

Im Gegensatz zu den USA und Asien-Pazifik waren europäische Unternehmen in der Vergangenheit stark von Bankfinanzierungen abhängig. Die Finanzierung durch Nichtbanken macht in den USA 73 % der Unternehmensfinanzierung aus, in Europa sind es dagegen nur 24 %. Laut meinen Schätzungen liegt die Finanzierungsquote in Spanien bei rund 90 % für Banken und 10 % für Kapitalmärkte. MARF hat sich zum Ziel gesetzt, diese Situation schnellstens zu ändern. Nach der Finanzkrise im Jahr 2008 und dann von 2010–2012 wurde BME von der spanischen Regierung beauftragt, einen neuen Markt zur Unterstützung der Finanzierung von KMU über die Fremdkapitalmärkte zu entwickeln. MARF hofft, die traditionelle Abhängigkeit der KMU von Bankfinanzierungen zu reduzieren, indem wir die Kotierung von festverzinslichen Wertpapieren für sie erleichtern und preiswerter gestalten. Es scheint, dass uns dies gelingt – wenn auch langsam. Beispielsweise haben wir beobachtet, dass KMU auch auf Kapitalmärkten verstärkt Finanzierung von direkten Kreditgebern und Private-Debt-Fonds suchen. Viele KMU haben ihre Lektion aus früheren Liquiditätsproblemen gelernt und versuchen deshalb, ihre Finanzierung zu diversifizieren.

Die Finanzierung durch Nichtbanken macht in den USA 73 % der Unternehmensfinanzierung aus, in Europa sind es dagegen nur 24 %. MARF hat sich zum Ziel gesetzt, diese Situation schnellstens zu ändern.

Welche Art von Aktivitäten findet auf MARF statt?

Seit seiner Gründung hat MARF eine rege Aktivität verzeichnet, 97 Unternehmen haben ihre festverzinslichen Wertpapiere hier kotiert. Bei sechs dieser Unternehmen handelt es sich um portugiesische Unternehmen.  Im letzten Jahr haben elf neue Unternehmen erstmalig festverzinsliche Wertpapiere auf dem MARF emittiert. Obwohl es im März und April 2020 einen Einbruch bei den Emissionsvolumen gab, konnten sich diese rasch erholen und beliefen sich im letzten Jahr auf insgesamt EUR 9,6 Milliarden, ein moderater Rückgang von 7 % gegenüber 2019. Am Jahresende 2020 betrug der gesamte ausstehende Betrag auf dem MARF EUR 5,3 Milliarden, ein Anstieg von 3,8 % gegenüber 2019. 

Was bring Anleiheanleger zum MARF und welche Trends beobachten Sie dort?

Anleger diversifizieren auf ihrer Jagd nach Rendite ihre Portfolios. Festverzinsliche Wertpapiere von KMU, die am MARF kotiert sind, bieten solide Spreads, wodurch sie für Anleger sehr attraktiv sind. Infolgedessen sind Anleger risikofreudiger geworden und haben sich von traditionellen Emittenten ab- und mittleren Unternehmen mit besseren Renditen zugewandt. Einer der grössten Anlegertrends derzeit ist die steigende Nachfrage von Allokatoren nach Zugang zu Anlagen mit ESG-Fokus (Environment, Social, Governance). Dies ist etwas, was Emittenten von festverzinslichen Wertpapieren in ihr Angebot aufnehmen müssen. Das zunehmende Interesse an ESG kommt zur gleichen Zeit wie die Einführung der Verordnung über nachhaltigkeitsbezogene Offenlegungspflichten im Finanzdienstleistungssektor (SFDR) durch die EU, eine Offenlegungsanforderung im Rahmen des Aktionsplans «Finanzierung nachhaltigen Wachstums». Im Rahmen der SFDR müssen Institute offenlegen, wie sie Nachhaltigkeit in ihre Investitionsentscheidungsprozesse integrieren. Auch Technologie wird für die Anleger immer wichtiger. In der Vergangenheit erfolgte der Handel auf Fixed-Income-Märkten OTC (Over-the-Counter), wir beobachten jetzt aber verstärkt «Elektronifizierung», was zu mehr Effizienzen und besserer Transparenz führen sollte. 

Mit welchen wesentlichen Herausforderungen ist der Markt derzeit konfrontiert?

Eine der wesentlichen Herausforderungen ist weiter das Thema der Elektronifizierung, nämlich, wie wir mehr OTC-Volumen auf unsere Plattform bringen können. Ein wiederkehrendes Problem für den Fixed-Income-Bereich sind auch bestimmte Vorschriften. Obwohl sie bereits vor über drei Jahren eingeführt wurden, haben sich einige der Transparenz- und Berichterstattungspflichten der EU-Richtlinie über Märkte für Finanzinstrumente (MiFID II) als recht schwierig für die Teilnehmer auf den Fixed-Income-Märkten erwiesen

Wie machen Sie MARF zukunftssicher und wie fördern Sie Innovationen?

Wir beobachten unsere Handelsplattform ständig und werden bei Bedarf die notwendigen technologischen Anpassungen vornehmen. Dies ist für unseren Geschäftserfolg von entscheidender Bedeutung. Auf längere Sicht suchen wir beim Thema Innovationen nach unkonventionellen Lösungen. Wir untersuchen derzeit einige disruptive Technologien, einschliesslich DLT (Distributed Ledger Technology) und Kryptowährungen. Wir beurteilen die Realisierbarkeit von DLT zur Ermöglichung der Ausgabe von tokenisierten festverzinslichen Wertpapieren. Tokenisierung könnte unserer Meinung nach Anlegern den Zugang zu Fixed-Income-Märkten erleichtern und dadurch die Liquidität erhöhen. Tokenisierung könnte auch dabei helfen, den Markt transparenter zu machen. Wir beschäftigen uns aktiv mit all diesen Initiativen.