Es ist mehr als zehn Jahre her, dass die erste Kryptowährung auf den Markt kam, Bitcoin. Seit diesem Zeitpunkt wurden im Bitcoin-System verschiedene digitale Währungsimitationen und neue Anlageklassen entwickelt, wie zum Beispiel «Initial Coin Offerings» (ICOs) und tokenisierte Wertschriften.

Blockchain, die für Bitcoin-Transaktionen verwendete Technologie, wird auch von etablierten Infrastrukturen und Depotstellen an den Wertschriftenmärkten im Beta-Test getestet. Einige von ihnen sind der Ansicht, dass die Unveränderlichkeit und Echtzeit-Protokollierung der Blockchain zur Senkung der operativen Kosten beitragen werden, da Ineffizienzen und Mehrfacherfassungen vermieden werden.

Digitale Assets haben sich weit entwickelt und stehen kurz vor der Institutionalisierung auf Grosshandelsebene, was auch auf die Arbeit von SIX Digital Exchange (SDX) zurückzuführen ist. Aber wie werden digitale Wertschriften das traditionelle Geschäftsmodell der Börsen umgestalten?

Am Anfang gab es Bitcoins, dann kamen ICOs
Seit der Einführung von Bitcoin haben die Kryptowährungen eine Reihe von Hochs und Tiefs durchlaufen. Ihre Popularität ist gut dokumentiert. Durch den Einsatz von privaten oder öffentlichen Schlüsseln können Kryptowährungen zwischen den Gegenparteien über eine Blockchain ohne Vermittlung von Banken, Brokern oder Infrastrukturen ausgetauscht werden, was die Transaktionskosten reduziert.

Aktuell liegt die Marktkapitalisierung der Kryptowährungen bei USD 262,45 Milliarden, davon entfallen 71,95% auf Bitcoin, Ethereum und Ripple.1 Ungeachtet der volatilen Eigenschaften der Anlageklasse haben sich institutionelle Anleger in letzter Zeit für den Handel mit Kryptowährungen und Bitcoin-Futures geöffnet. So stellte State Street fest, dass fast ein Viertel der Vermögensverwalter mit Kryptowährungen/Bitcoin-Futures handelt, dies entspricht einem Anstieg seit 2019 um das Fünffache.2

Dennoch sind viele Anleger skeptisch bezüglich des Bitcoin-Handels und haben Bedenken hinsichtlich der Cybersicherheit, der Volatilität und des Mangels an einer angemessenen regulatorischen Aufsicht. Untersuchungen von KPMG ergaben, dass seit 2017 digitale Vermögenswerte in Höhe von USD 9,8 Milliarden aus öffentlichen Blockchains gestohlen wurden. Dies schreckt Anleger, die Verordnungen wie der EU-Richtlinie über die Verwalter alternativer Investmentfonds oder der OGAW-V-Richtlinie unterliegen, massiv ab (selbst Organisationen, die den Handel über private Blockchains in Erwägung ziehen).

Obwohl Kryptowährungen für einige Anleger attraktiv bleiben, sind ICOs – eine Art Blockchain, die einen auf Kryptowährungen basierenden Prozess der Kapitalbeschaffung nach dem Vorbild von IPOs («Initial Public Offerings») ermöglicht, allerdings für viel kleinere Unternehmen – so gut wie verschwunden. Dies ist darauf zurückzuführen, dass sich viele ICOs als Betrug herausstellten. «ICOs waren zwar innovativ, aber auch anfällig für Missbrauch, da sie keine Governance oder regulatorische Aufsicht hatten», erklärt Monica Singer, Leiterin der Südafrika-Sparte von Consensys.

 

ICOs in Zahlen

Anteil der ICOs, die als Betrug identifiziert wurden 80%
Betrag der im 1. Hj. 2018 durch Hackerangriffe gestohlenen digitalen Währungen USD 1,1 Milliarden
ICO-Emissionsvolumen im Jahr 2018 USD 11,4 Milliarden
ICO-Emissionsvolumen im Jahr 2019 (bis Mai 2019) USD 40 Millionen (ein Rückgang von 97% im Vergleich zum Vorjahr)

Der Markt reift: Tokenisierte Wertschriften
Zwar werden Kryptowährungen und ICOs von den etablierten Institutionen weitgehend gemieden, die Fortschritte bei der Tokenisierung von Vermögenswerten/Wertschriften werden jedoch aufmerksam verfolgt. «Die Tokenisierung von Vermögenswerten ist ein noch unerschlossener Markt, eine Innovation, die von SIX Digital Exchange (SDX) aktiv ausgelotet und von der Schweizer Börse vorangetrieben wird. Kurz gesagt, die Tokenisierung kann für nicht bankfähige, nicht handelbare Vermögenswerte geeignet sein», sagt Rupertus Rothenhaeuser, Chief Clients & Products Officer bei SDX.

Rothenhaeuser ist daher der Ansicht, dass eine Tokenisierung die Marktliquidität in Anlageklassen, die lange Zeit als illiquide oder nicht handelbar galten, grundlegend verändern könnte. Es gibt deutliche Parallelen zwischen der Tokenisierung von Vermögenswerten und der Verbriefung.

Stellen wir uns vor, wir besitzen einen materiellen, illiquiden, nicht kotierten Vermögenswert wie etwa ein Kunstwerk oder ein Einkaufszentrum. Auch wenn ein grosser institutioneller Anleger diese Vermögenswerte direkt kaufen könnte, entscheiden sich andere Interessenten vielleicht dafür, ein indirektes Engagement aufzubauen, indem sie Kapital in einen Infrastrukturfonds oder Private-Equity-Fonds investieren. Für Privatanleger ist der Zugang zu solchen Fonds stark eingeschränkt, da sie nur an institutionelle Anleger vermarktet werden und sehr hohe Mindestanlageschwellen haben. Durch die Tokenisierung können illiquide Vermögenswerte wie Immobilien in Einzelteile heruntergebrochen, d.h. fraktioniert und digitalisiert werden, so dass sie auf dem Sekundärmarkt über eine Blockchain-Infrastruktur gehandelt werden können.

Der Wert der digitalen Token korreliert direkt mit dem Basispreis des realen Vermögenswertes. Da diese Token teilbar sind, kann jeder normale Privatanleger sie relativ problemlos kaufen, die Mindestanlageschwellen sind deutlich niedriger.

Nach Ansicht von Rothenhaeuser eignen sich zwar private Märkte, strukturierte Finanzprodukte und bestimmte OTC-Instrumente wie illiquide Anleihen ideal für die Tokenisierung, doch warnt er vor dem Versuch, liquide Finanzinstrumente zu tokenisieren. «Fraktioniertes Eigentum eignet sich für bestimmte Anlageklassen besser als für andere. Der Handel mit Aktien, Futures und Optionen sowie der Hochfrequenzhandel sind automatisiert, so dass der Versuch, diese Märkte zu tokenisieren, wenig Mehrwert bringt», merkt er an.

Ergänzung des bestehenden Kotierungsprozesses
Auch wenn die Tokenisierung von hochliquiden Blue-Chip-Aktien nur bedingt sinnvoll sein mag, glauben die Experten der Schweizer Börse, dass die Tokenisierung eine wesentliche Rolle bei der Unterstützung der Arbeit des traditionellen Börsengeschäfts spielen könnte, weil sie kleineren Unternehmen den Börsengang erleichtert.

«Initial Digital Offerings» (IDOs, auch bekannt als «Initial Securities Offerings») weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten mit gewöhnlichen Börsengängen (IPOs) auf. IDOs können ausserdem den Kotierungsprozess für Boutique-Unternehmen zugänglicher machen, die normalerweise nicht an die Börse gehen, sondern an Private-Equity-Investoren verkauft werden.

Während IPOs in der Regel eine Mindestbewertung des Unternehmens von rund USD 25 Millionen vorsehen, richten sich IDOs an Unternehmen mit einer Marktkapitalisierung zwischen USD 5 Millionen und USD 25 Millionen. Singer ergänzt: «Die Tokenisierung wird den IPO-Prozess demokratisieren und könnte teils zur Disintermediation traditioneller IPOs führen, insbesondere wenn die Token direkt an die Investoren verkauft werden können.»  

Darüber hinaus werde sich laut Singer der vorausschauende Ansatz von SDX zur Tokenisierung langfristig auszahlen, da sich eine wachsende Zahl von Privatunternehmen dafür entscheiden wird, den Börsengang zeitlich zu verschieben und gleichzeitig neue Handelsplattformen auf den Markt kommen. «Was SDX macht, ist brillant. In den letzten fünf Jahren haben eine Reihe von Börsen mit der Einführung neuer Plattformen allmählich an Liquidität verloren, was wiederum zu einem veränderten Handelsmuster geführt hat. Anbieter wie SDX sind sich bewusst, dass auf dem Markt grosse Veränderungen stattfinden, die das traditionelle Börsenmodell möglicherweise veraltet machen», behauptet Singer.  

Tokenisierung als wesentliches Differenzierungsmerkmal
Neben der Bereitstellung tieferer Liquiditätspools und der stärkeren Beteiligung von Anlegern an bestimmten Anlageklassen könnte die Tokenisierung auch eine Reihe anderer Vorteile für die Nutzer auf dem Markt mit sich bringen. Rothenhaeuser weist darauf hin, dass die Tokenisierung durch sogenannte Smart Contracts unterstützt wird (ein Computerprotokoll, bei dem eine Vereinbarung zwischen den Teilnehmern in einen Code eingebettet wird), was die Automatisierung veralteter Prozesse erleichtern dürfte.

«Smart Contracts sind autonom und erkennen Prozesse, wie z.B. Aktiendividenden- und Kuponzahlungen automatisch. Dadurch wird der Verwaltungsaufwand reduziert und die so erzielten Effizienzgewinne bringen wiederum Kostenvorteile für die Nutzer auf dem Markt», fährt er fort.

Dieses neue Marktmodell wird eine Reihe von bestehenden Barrieren abbauen. Insbesondere werden Handel und Abwicklung bei SDX nicht länger getrennt sein, sondern im gleichen Zyklus stattfinden. Bei SDX wird dies als risikoloser Handel bezeichnet, ein Mechanismus, der effektiv garantiert, dass jeder abgeglichene Auftrag über einen als atomare Abwicklung bekannten Prozess abgewickelt wird.

Eine atomare Abwicklung ist, einfach ausgedrückt, dann gegeben, wenn beide Bestandteile einer Transaktion (die Lieferung und die Zahlung) gleichzeitig stattfinden. Da die Transaktion sofort erfolgt, werden (anders als im derzeitigen Handelszyklus T+2 oder T+3) die Abwicklungs-, Clearing- und Gegenparteirisiken eliminiert. Damit ist kein zentrales Clearing mehr erforderlich.

Die Tokenisierung könnte auch eine wichtige Rolle bei der Förderung der Transparenz des Marktes spielen. «Ein Security-Token bzw. Wertschriften-Token kann die Rechte und gesetzlichen Verpflichtungen des Token-Inhabers zusammen mit dem unveränderlichen Eigentumsnachweis direkt auf dem Token verankern. Diese Merkmale können Transaktionen transparenter machen, so dass Sie wissen, mit wem Sie Geschäfte machen, welche Rechte Sie und ihre Gegenparteien haben, und wer dieses Token zuvor besessen hat», geht aus einem Deloitte-Weissbuch hervor.4 Dies könnte für Anlageklassen wie Immobilien, die in hohem Masse durch Intermediäre vermittelt werden und eine umfangreiche Dokumentation erfordern, eine bedeutende Veränderung darstellen.

Überwindung der Vorbehalte
Die an den Kryptobörsen gehandelten Kryptowährungen und auch die ICOs sind schon lange anfällig für Cyber-Kriminalität und Hackerangriffe. Verschiedene Kryptobörsen haben private Schlüssel online gespeichert, es jedoch versäumt, ausreichende Schutzvorkehrungen gegen die Gefahren eines möglichen Missbrauchs und Betrugs zu treffen.

Nach Einschätzung von Rothenhaeuser sind die von SDX eingesetzten Mechanismen zum Schutz der tokenisierten Vermögenswerte der Kunden vor Cyber-Angriffen absolut sicher. Im Bewusstsein der immer komplexeren Cyber-Risiken, mit denen die Kunden konfrontiert sind, hat SDX in Zusammenarbeit mit securosys eine Lösung entwickelt, die jeden Knoten im Netzwerk mit Hilfe von HSMs nach Industriestandard schützt. SDX hat auch mit Riddle&Code zusammengearbeitet, einem Start-up-Unternehmen, das sich auf die Einrichtung sicherer Kontrollen für verteilte digitale Netzwerke konzentriert, so dass Transaktionen, die über SDX stattfinden, vor Cyber-Bedrohungen geschützt werden.

Aber auch andere Hindernisse müssen beseitigt werden. Es wird zwar allgemein akzeptiert, dass die bestehenden Regelungen für Wertschriften auch für tokenisierte Vermögenswerte gelten, doch sind die entsprechenden Vorschriften noch nicht harmonisiert. «Die regulatorische Akzeptanz und die Herangehensweise an tokenisierte Wertpapiere sind in den einzelnen Ländern unterschiedlich», heisst es in einem Papier von ASIFMA.5

Dies könnte ebenfalls zu einer möglichen Arbitrage im Markt führen. Nach Angaben von Rothenhaeuser hat sich SDX mit lokalen Aufsichtsbehörden wie der FINMA und der Schweizerischen Nationalbank über die Einrichtung eines gut überwachten Ökosystems für digitale Vermögenswerte ausgetauscht. Voraussetzung für den Erfolg tokenisierter Vermögenswerte ist, dass die Aufsichtsbehörden Regeln entwickeln, die die Interessen und Rechte der Anleger schützen und gleichzeitig sicherstellen, dass der Markt reif für Innovationen ist.

«Eine der grössten Herausforderungen im Bereich Kryptowährungen besteht darin, dass diese Anlageklasse völlig unreguliert ist. Uns ist bewusst, dass wir für eine stärkere Institutionalisierung tokenisierter Wertschriften ein gut reguliertes Umfeld brauchen, das die Anlagensicherheit und den Schutz der Anleger gewährleistet. Gelingt es, eine solche Marktdisziplin – verbunden mit der in diesem Bereich erforderlichen technologischen Transparenz – zu etablieren, werden mehr Anleger tokenisierten Wertschriften vertrauen und mit ihnen handeln. Aus unserer Sicht ist SDX gut aufgestellt, um dieses Ziel zu erreichen», erklärt Avi Ghosh, Head of Marketing der Schweizer Börse.

Gleichzeitig muss die Branche eng zusammenarbeiten, um Standards für tokenisierte Vermögenswerte zu entwickeln und damit Interoperabilität und Wachstum zu fördern. Wie wir bei früheren Marktinitiativen, z.B. bei der Einführung universeller Finanznachrichten, gesehen haben, sind Standards für den Erfolg unerlässlich. Laut Rothenhaeuser arbeitet SDX aktiv mit verschiedenen Kunden zusammen, um verbindliche Standards für tokenisierte Vermögenswerte zu entwickeln. Im Rahmen dieser Kooperation werden ausserdem gemeinsam mit einzelnen Kunden Produkte mit Konzeptnachweis entwickelt. Zudem könnten einige dieser Initiativen als Grundlage für künftige Standardisierungsvorlagen dienen.

1 Coin Telegraph (August 17, 2019) A different look at crypto market and top assets: how dominated is it?

2 Global Custodian (March 11, 2020) Institutional uptake of crypto-currencies on the rise as the need for custodians intensifies

3 Coin Telegraph

4 Deloitte – The Tokenisation of assets is disrupting the financial industry: Are you ready?

5 ASIFMA (November 2019) Tokenised securities: A Roadmap for Market participants and regulators