Christian Reuss, wenn Sie das Wachstum nachhaltiger Anlagen in den letzten Jahren betrachten: Was waren Ihrer Meinung nach die treibenden Kräfte?

Themen wie Umwelt, Soziales und Governance – oder auf Englisch kurz ESG – sind nicht neu. Es bedurfte jedoch einiger Schlüsselereignisse, um die breite Aufmerksamkeit der Anleger auf sie zu lenken. Aus der Sicht eines Anlegers ist es nämlich nicht hilfreich, wenn man eine Entwicklung oder eine Irrationalität auf den Märkten als Erster erkennt, aber dann der Einzige bleibt, weil andere Anleger diese nicht wahrnehmen. Oder um es mit den Worten von John Maynard Keynes zu sagen: «Die Märkte können länger irrational bleiben, als man zahlungsfähig bleiben kann.»

Was waren solche Schlüsselereignisse?

Was die Governance betrifft, so hat der Skandal um Enron im Jahr 2001 sicherlich die Aufmerksamkeit der Anleger auf dieses Thema gelenkt.

Umweltrisiken aufgrund von extremen Wetterereignissen wie Überschwemmungen und Ähnlichem sind in den letzten Jahren stärker ins öffentliche Bewusstsein gerückt und dominieren seit 2016 auch die Global Risk Reports des Weltwirtschaftsforums. Im Jahr 2021 stehen vier der fünf grössten Risiken im Zusammenhang mit der Umwelt – komplettiert von Infektionskrankheiten im Zusammenhang mit der aktuellen Pandemie. In der breiteren Öffentlichkeit sorgen auch Initiativen wie «Fridays for Future» für viel Aufmerksamkeit.

Soziale Faktoren erscheinen zunehmend als Teil gesellschaftlicher Megatrends wie Globalisierung, Urbanisierung, Ungleichheit und die Schöpfung von Wohlstand. Auch Veränderungen in den Bereichen Arbeit, Familienstrukturen, Demografie, Gesundheit und Lebenserwartung können hier genannt werden.

ESG rückt also mehr und mehr in den Fokus der Anleger?

Ja. Wichtig ist auch die sich ändernde Wahrnehmung, dass die Berücksichtigung von ESG-Faktoren beim Investieren ausschliesslich der Risikominderung dient und dabei die Performance schmälern würde. Je mehr Anleger, aber auch Verbraucher, Kunden, Regierungen und andere Stakeholder für diese Themen sensibilisiert werden, desto mehr Möglichkeiten entstehen, mit ESG auch bessere Performances zu erzielen.

Darren Marsh

ESG-Investments haben die Aufmerksamkeit eines breiteren Publikums geweckt.

Christian Reuss, Head SIX Swiss Exchange

All diese Entwicklungen haben dazu geführt, dass ESG-Investments inzwischen die Aufmerksamkeit eines breiteren Anlegerpublikums geweckt haben. Und angesichts der Bedeutung des Themas denke ich, dass das Interesse weiter wachsen wird – auch wenn es noch erhebliche Herausforderungen gibt.

Worin bestehen diese Herausforderungen?

In erster Linie gibt es derzeit keine weltweit akzeptierten Standards für die Definition von «ESG» im Anlagekontext. Daher gibt es verschiedene Initiativen, die gewisse Elemente von ESG auf unterschiedliche Weise betonen. Ein Beispiel sind «ESG-Ratings»: Es gibt diverse Anbieter und Methodologien, die dazu führen, dass ein Unternehmen gleichzeitig ein sehr gutes und ein sehr schlechtes Rating erhalten kann.

Diese Divergenz wird derzeit von den Anlegern beobachtet, und mehrere Studien versuchen, die Performance mit den verschiedenen Ratings abzugleichen. Mit der Zeit wird der Markt einen Weg finden. Eine grössere Herausforderung und deutlich schädlicher ist hingegen das «Greenwashing». In Ermangelung von Standards oder koordinierten Kriterien ist es schwierig, dies zu erkennen oder zu hinterfragen.

Was ist mit «Greenwashing» gemeint?

«Greenwashing» beschreibt die übertriebene oder irreführende Darstellung eines Anlageportfolios als «grün» oder «nachhaltig». Dies kann absichtlich oder unabsichtlich geschehen, in jedem Fall aber schadet es der Glaubwürdigkeit und damit der zunehmenden Berücksichtigung von ESG-Faktoren im Anlageprozess. Diese Problematik ist den Regulierungsbehörden aufgefallen und könnte zu Eingriffen führen.

Greenwashing schadet der Glaubwürdigkeit von ESG-Faktoren.

Eine weitere zentrale Herausforderung ist die Standardisierung der Offenlegungen über alle Unternehmen hinweg. Die ESG-Faktoren sind je nach Branchen verschieden und teilweise unternehmensspezifisch. Glücklicherweise gibt es in diesem Bereich Initiativen zur Harmonisierung, die von Branchenorganisationen und Regierungen vorangetrieben werden.

Können Sie einige Beispiele nennen?

In der Schweiz wurde das Eidgenössische Finanzdepartement vor einigen Monaten vom Bundesrat beauftragt, einen Vernehmlassungsentwurf für eine künftige obligatorische Klimaberichterstattung auszuarbeiten. Dieser Entwurf soll bis zum Sommer 2022 vorliegen und würde grosse Schweizer Unternehmen – sowohl börsenkotierte als auch nicht kotierte – betreffen, darunter auch Banken und Versicherungen mit 500 oder mehr Mitarbeitern, einem Umsatz von mehr als CHF 40 Millionen bzw. einer Bilanzsumme von mehr als CHF 20 Millionen.

Darüber hinaus verlangt die FINMA von den Finanzinstituten, dass sie die Schlüsselelemente ihrer Governance-Struktur in Bezug auf klimabezogene Finanzrisiken und ihren Prozess zur Identifizierung, Bewertung und Steuerung klimabezogener Finanzrisiken beschreiben.

Welche Vor- und Nachteile bringt das mit sich?

Während dies auf den ersten Blick eine zusätzliche regulatorische Belastung für die Unternehmen darstellt, trägt es auch dazu bei, die geforderte Offenlegung in Bezug auf ESG gegenüber Investoren, Rating-Agenturen und anderen Stakeholdern zu standardisieren und dadurch einige Effizienzgewinne zu erzielen, indem Vergleiche erleichtert werden. Natürlich werden solche nachhaltigkeitsbezogenen Vorschriften nicht nur in der Schweiz entwickelt, sondern in zahlreichen Ländern.

Beispiele sind die vom Financial Stability Board (FSB) eingerichtete Task Force on Climate-related Financial Disclosures (TCFD), die Empfehlungen für die klimabezogene Offenlegung von Finanzdaten ausspricht, oder die UN Sustainable Stock Exchanges Initiative, die eine globale Forschungsgrundlage bietet, wie Börsen ihre Leistung in Bezug auf ESG-Themen verbessern und nachhaltige Investitionen fördern können, einschliesslich der Finanzierung der Ziele für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen. Diese positiven Entwicklungen fördern die Schaffung von Standards, die grenzüberschreitend verwendet werden können.

Sie haben die Börsen im ESG-Kontext erwähnt. Was ist in Ihren Augen deren Rolle?

Als Börse sind wir der Marktplatz, der Emittenten und Investoren zusammenführt. Was die Offenlegung im ESG-Bereich angeht, so unterstützen wir den Einbezug von wichtigen zukunftsorientierten ESG-Faktoren in unseren Segmenten. Wir können zwar nicht beeinflussen, in welche Richtung die Kapitalströme fliessen und was somit an unserer Börse gehandelt wird. Aber wir können dazu beitragen, Transparenz in Bezug auf ESG-Faktoren zu schaffen. Wir können beispielsweise Emittenten dabei unterstützen, ESG-Offenlegungsstandards zu schaffen, die der Nachfrage der Anleger entsprechen, oder indem wir die Sichtbarkeit nachhaltiger Investments erhöhen.

Als Börse können wir dazu beitragen, Transparenz in Bezug auf ESG-Faktoren zu schaffen.

Während wir im Anleihensegment bereits mehrere ‘Flags’ anbieten, die anzeigen, ob eine Anlage nachhaltig ist, gestaltet sich die Erstellung von Offenlegungsempfehlungen für Emittenten schwieriger. Sie erfordert eine länderübergreifende Koordination, und vor allem muss dies gemeinsam mit unseren Emittenten sowie im Einklang mit den gesetzlichen Verpflichtungen geschehen.

Dies mag einige Zeit in Anspruch nehmen, aber ich bin überzeugt, dass eine solche Reihe von ESG-Offenlegungsempfehlungen ein wichtiger Beitrag wäre, den die Börsen leisten können, um die Kapitalmärkte bei der breiteren und effizienteren Einführung von ESG in der Zukunft zu unterstützen. Als Mitglied der UN Sustainable Stock Exchanges Initiative zeigen wir unser Commitment in diesem Bereich: hier können wir uns einbringen und vom vorhandenen Fachwissen über potenzielle Standardisierungsmassnahmen in verschiedenen Ländern profitieren.

Wie fügt sich dieses Engagement die Aktivitäten von SIX und ihren anderen Geschäftsbereichen ein?

Es ist eine logische Erweiterung dessen, was wir bereits tun: Eine nachhaltige Zukunft zu ermöglichen, ist Teil des Leitbilds von SIX. Seit 2015 verfolgen wir eine Corporate-Responsibility-Strategie mit verschiedenen Initiativen, die sich auf drei Handlungsfelder konzentrieren: den Beitrag von SIX zur Stabilität und Attraktivität des Finanzplatzes, die Verantwortung von SIX als Arbeitgeberin sowie unseren Beitrag an die Gesellschaft und zum Schutz der Umwelt.

SIX beteiligt sich zudem bereits an einer Reihe von Brancheninitiativen sowie nationalen und internationalen Arbeitsgruppen. Seit 2013 ist SIX Mitglied der Global Reporting Initiative und rapportiert seit 2016 nach den GRI-Standards. SIX ist auch Mitglied von Swiss Sustainable Finance, die sich zum Ziel gesetzt hat, über Best Practices zu informieren und unterstützende Rahmenwerke und Instrumente zur Unterstützung ihrer Mitglieder zu schaffen. Zudem unterstützt SIX das Zürcher Energiemodell, das eine Verpflichtung zur Verbesserung der Energieeffizienz beinhaltet, und das Advance-Netzwerk für «Gender Equality in Business».

Der «süsse Lohn» der Nachhaltigkeitsbemühungen von SIX ist jedoch der Honig, der seit 2017 von den Bienen auf dem Dach unseres Hauptgebäudes in Zürich-West produziert wird. Ihre Ernte wird jährlich unter den Mitarbeitenden versteigert und der Erlös dem Verein Schweizerischer Mellifera Bienenfreunde gespendet.

Christian Reuss, vielen Dank für das Gespräch!