Was können die Kapitalmärkte in Lateinamerika für ihr Wachstum von Europa lernen?

Was können die Kapitalmärkte in Lateinamerika für ihr Wachstum von Europa lernen?

Obwohl Lateinamerika keinen zusammenhängenden Kapitalmarkt wie die EU hat, wird die Region reifer. Lesen Sie wie sich die dortigen Kapitalmärkte in 2021 erholt haben, wie diese sich konsolidieren, was ESG für eine Region bedeutet, die von Rohstoffen geprägt ist und was Regulierung damit zu tun hat.

2021 haben sich die lateinamerikanischen Märkte erholt

Nach einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) um 6,8 % im Jahr 2020 begannen sich die lateinamerikanischen Märkte zu erholen, da die globale Investitions-Community wieder zurückkehrte. Der Internationale Währungsfonds prognostiziert für 2021 ein reales BIP-Wachstum von 6,3 %. Auch die Situation bei den IPOs kam in Bewegung in der Region. Zuvor konzentrierten sich ausländischen Investitionen vor allem auf aufstrebende Unternehmen in der Region APAC. Jetzt beginnen lateinamerikanische Unternehmen ein grösseres Interesse auf sich zu ziehen. Zu diesem Schluss kamen die Referenten des Webcasts «Future of Latin America» von Financial News im Dezember 2021, darunter Javier Hernani, CEO BME und Head Securities Services bei SIX.

Wie viele IPOs gab es 2021 in Lateinamerika?

Nach Angaben von White & Case wurden in der Region in den ersten neun Monaten von 2021 durch 55 IPOs 15,17 Milliarden US-Dollar aufgenommen, was einem Anstieg von 41 % gegenüber 2020 entspricht. Die meisten Börsengänge fanden in Brasilien statt, auf das Land entfielen bis auf fünf alle Börsengänge der Region. Obwohl die lateinamerikanischen Länder hohe BIP-Zahlen und ein steigendes Investitionsinteresse in ihren lokalen Märkten verzeichnen, sagte Javier Hernani, dass die Region noch Raum für weiteres Wachstum habe.

Bemühungen zur Förderung ausländischer Investitionen in Lateinamerika sind im Gange, so Javier Hernani weiter. «Wir müssen ein grösseres Bewusstsein für die Investitionsmöglichkeiten in Lateinamerika schaffen, und das ist etwas, was die BME seit einiger Zeit mit Latibex macht, einem internationalen Markt für lateinamerikanische Wertpapiere». Neben Latibex arbeitet SIX – über BME – derzeit an einer Initiative, um Referenzdaten zu lateinamerikanischen Wertpapieren für globale Investoren leichter zugänglich zu machen (siehe Box).

Wo gibt es standardisierte Referenzdaten für die lateinamerikanischen Märkte?

SIX hat via BME mit der Mexikanischen Börse ein Joint Venture gegründet: LatAm Exchange Data, oder kurz LED. LED will die in den lateinamerikanischen Märkten generierten Daten über alle Anlageklassen hinweg integrieren, verbessern und konsolidieren. Das Ziel sind standardisierte Referenz-, Kurs und Corporate-Actions-Daten für die wichtigsten Handelsplätze Mittel- und Südamerikas.

Zurzeit zählen neben der mexikanischen Börse Handelsplätze aus vier südamerikanischen Ländern zu den Partnern von LED: Brasilien, Chile, Kolumbien und Peru. Demnächst stossen Börsen aus weiteren Ländern der Region dazu.

Erfahren Sie hier mehr über LED.

 

Konsolidierung der Finanzmarktinfrastrukturen fördern Liquidität

Reformen der Marktinfrastruktur spielen ebenfalls eine entscheidende Rolle bei der Förderung von Investitionen aus dem Ausland. Die brasilianischen Cetip und BM&FBovespa, die zuvor einen getrennten Markt betrieben, haben ihre offiziellen Handelsplätze sowie den OTC-Handel zusammengelegt, um eine einheitliche Marktinfrastruktur mit der Bezeichnung B3 zu schaffen. In ähnlicher Weise vereinbarten die Börsen von Kolumbien, Chile und Peru im November 2021, sich zu einer regionalen Holdinggesellschaft zusammenzuschliessen und so zur zweitgrössten Börse Lateinamerikas zu werden. Durch die verstärkte Konsolidierung der Finanzmarktinfrastrukturen wird es für die globale Investitions-Community einfacher, sich an diesen lokalen Märkten zu beteiligen, was zu einer grösseren Liquidität führt.

Lateinamerika hat Raum für weiteres Wachstum

Javier Hernani, CEO BME und Head Securities Services, SIX

Obwohl Lateinamerika traditionell ein starker Rohstoffmarkt ist, gewinnen ESG-Investitionen (Environment, Social, Governance) in der Region an Dynamik, sagte Javier Hernani. Zwar ist der Anteil Lateinamerikas am 3-Billionen-US-Dollar-Markt für ESG-Anleihen sehr gering, doch erreichten die Emissionen von GSS-Anleihen (Green, Social, Sustainability und Sustainability-Linked) im Juli 2021 45 Milliarden US-Dollar, was dem 1,7-fachen des Emissionsvolumens im gesamten Jahr 2020 entspricht. Da die Emissionen von GSS-Anleihen in Lateinamerika zunimmt, ist es wahrscheinlich, dass weitere Investitionen zufliessen werden.

Was behindert die Investitionen in Lateinamerikanische Märkte?

Eines der grössten Hindernisse für grössere Investitionen in Lateinamerika, erklärte Javier Hernani, sei das Fehlen einer gemeinsamen Währung.  Die Entscheidung Spaniens, dem Euro beizutreten, sei beispielsweise entscheidend für die Gestaltung der Kapitalmärkte und die Minderung von Währungsrisiken gewesen. Doch diese Möglichkeit einer gemeinsamen Währung gebe es in Lateinamerika nicht.

Ausserdem unterlägen die in der EU tätigen Marktteilnehmer harmonisierten rechtlichen Rahmenbedingungen, was Investitionen in der Region erleichtere. Dies steht in deutlichem Gegensatz zu Lateinamerika.  Zwar haben eine Handvoll Länder – darunter Chile, Kolumbien, Mexiko und Peru – versucht, ihre jeweiligen Aktienmärkte miteinander zu verbinden, doch war die Initiative aufgrund von Regulierungsunterschieden zwischen den teilnehmenden Ländern nicht erfolgreich. Diese Probleme müssen gelöst werden, wenn die Zuflüsse zunehmen sollen.

Obwohl Lateinamerika keinen zusammenhängenden Kapitalmarkt wie die EU hat, wird die Region reifer, wie die steigende Zahl von Börsengängen, die zunehmende Konsolidierung der Finanzmarktinfrastrukturen und das Aufkommen von ESG-Investitionen zeigen.